Goethes Beziehung zu Friederike Brion ist eine entscheidende Episode in seiner Biographie, weil sie die Entstehung eines Teils des Materials hervorbringt, das dann in der Fassung des Werther umfunktioniert wird, aber auch weil die sogenannte „Sesenheimer Idylle“ vom Autor in Dichtung und Wahrheit erzählt wird und dadurch eine Reihe von Valenzen und Nebenbedeutungen übernimmt, welche das Ziel haben, sowohl das Geschehene als auch die Literarisierung des real Erlebten rückblickend zu interpretieren. Goethes Art und Weise, das Erlebte zu erzählen, ist stets eine – eigentlich nicht sehr naive – „Mischung von Wahrheit und Lüge“, wobei mit Lüge die Fiktion gemeint ist. Er äußert sich immer – in seinen autobiographischen Schriften sowie in seinen Romanen – «figürlich und gleichnisweise», indem er dem Leser durch erfundene Figuren oder Episoden paradigmatische Beispiele mitteilt, die teilweise aus seinem Erlebten, teilweise aus der Verarbeitung seiner Lektüren herstammen. Seine Einbildungskraft besteht in einer außerordentlichen kombinatorischen Fähigkeit, die es ihm ermöglicht, die Impulse der literarischen Tradition zu revitalisieren und sein eigenes Erlebnis zu literarisieren: um – wie er selber behauptet – aus kleinen Anlässen große Gleichnisse hervorzubringen. Das Motiv der Verkleidung taucht in Goethes Leben und Werk immer wieder auf. Obwohl man jeweils eine psychoanalytische Erklärung seiner Verkleidungen finden kann, steht die Tatsache fest, dass der Schriftsteller sich seiner Taten bewusst war, die jeweils den Charakter eines „Scherzes“ hatten, aber auch, seine Privatsphäre, die „Hauptsache“, d.h. seine literarische Produktion „schützen“ sollten. Goethe selbst erzählt in seinen autobiographischen Schriften von seinen Verkleidungen. Da aber der Autor selbst in Dichtung und Wahrheit von seinen Verkleidungen rückblickend erzählt, spielt der kommunikative Faktor eine entscheidende Rolle: Goethe will Jahrzehnte später durch einen Umweg etwas indirekt äußern, so wie früher die Verkleidung ein Umweg gewesen war, um die emotionalen Reaktionen zu erproben. Der späte Goethe verwendet sein Erzählen als eine „verkleidete“ Mitteilung und öffnet damit den Weg zu einer indirekten Art und Weise der Kommunikation, die nur von demjenigen verstanden werden kann, der zwischen den Zeilen liest. Goethe bietet somit einen Interpretationsschlüssel für seine Werke, aber auch für die psychologischen Experimente seines Lebens, deren Spuren er sorgfältig verwischt hat. Der Autor setzt das Spiel mit seinem „impliziten Leser“ fort: er hat nämlich jene Briefe und Dokumente, die das Geschehene hätten beweisen können, verbrannt. Gleichzeitig fügt er dennoch in seinen Erzähltext einen Interpretationsschlüssel ein, der dem Modell-Leser helfen kann, eine Lesestrategie nachzuvollziehen. Was der Autor uns durch diesen Umweg mitteilen will, ist nämlich etwas Unheimliches, das von einem Schuldgefühl begleitet wird. Goethe teilt uns mit, dass er die Familie Brion für sein Experiment „ausgenutzt“ hat und dass seine Einstellung ja unkorrekt, aber irgendwie notwendig war, um Affekte und Leidenschaften literarisch darstellen zu können. Und all diese indirekten Hinweise auf die Tatsache, dass einige Werther-Briefe die Stimmung – und manchmal sogar die Worte – der „Sesenheimer Idylle“ reproduzieren, haben das Ziel, dem „Modell-Leser“ einen Schlüssel zu liefern, damit dieser versteht, dass auch Charlotte Buff und Kestner programmatisch zu literarischem Stoff umfunktioniert worden sind.

Der lügende Gast. Selbstinszenierung und literarische Vorbilder in Geothes Darstellung der „Sesenheimer Idylle“ / Ponzi, Mauro. - In: STUDI GERMANICI. - ISSN 0039-2952. - STAMPA. - XLVI , 2:(2008), pp. 191-229.

Der lügende Gast. Selbstinszenierung und literarische Vorbilder in Geothes Darstellung der „Sesenheimer Idylle“

PONZI, Mauro
2008

Abstract

Goethes Beziehung zu Friederike Brion ist eine entscheidende Episode in seiner Biographie, weil sie die Entstehung eines Teils des Materials hervorbringt, das dann in der Fassung des Werther umfunktioniert wird, aber auch weil die sogenannte „Sesenheimer Idylle“ vom Autor in Dichtung und Wahrheit erzählt wird und dadurch eine Reihe von Valenzen und Nebenbedeutungen übernimmt, welche das Ziel haben, sowohl das Geschehene als auch die Literarisierung des real Erlebten rückblickend zu interpretieren. Goethes Art und Weise, das Erlebte zu erzählen, ist stets eine – eigentlich nicht sehr naive – „Mischung von Wahrheit und Lüge“, wobei mit Lüge die Fiktion gemeint ist. Er äußert sich immer – in seinen autobiographischen Schriften sowie in seinen Romanen – «figürlich und gleichnisweise», indem er dem Leser durch erfundene Figuren oder Episoden paradigmatische Beispiele mitteilt, die teilweise aus seinem Erlebten, teilweise aus der Verarbeitung seiner Lektüren herstammen. Seine Einbildungskraft besteht in einer außerordentlichen kombinatorischen Fähigkeit, die es ihm ermöglicht, die Impulse der literarischen Tradition zu revitalisieren und sein eigenes Erlebnis zu literarisieren: um – wie er selber behauptet – aus kleinen Anlässen große Gleichnisse hervorzubringen. Das Motiv der Verkleidung taucht in Goethes Leben und Werk immer wieder auf. Obwohl man jeweils eine psychoanalytische Erklärung seiner Verkleidungen finden kann, steht die Tatsache fest, dass der Schriftsteller sich seiner Taten bewusst war, die jeweils den Charakter eines „Scherzes“ hatten, aber auch, seine Privatsphäre, die „Hauptsache“, d.h. seine literarische Produktion „schützen“ sollten. Goethe selbst erzählt in seinen autobiographischen Schriften von seinen Verkleidungen. Da aber der Autor selbst in Dichtung und Wahrheit von seinen Verkleidungen rückblickend erzählt, spielt der kommunikative Faktor eine entscheidende Rolle: Goethe will Jahrzehnte später durch einen Umweg etwas indirekt äußern, so wie früher die Verkleidung ein Umweg gewesen war, um die emotionalen Reaktionen zu erproben. Der späte Goethe verwendet sein Erzählen als eine „verkleidete“ Mitteilung und öffnet damit den Weg zu einer indirekten Art und Weise der Kommunikation, die nur von demjenigen verstanden werden kann, der zwischen den Zeilen liest. Goethe bietet somit einen Interpretationsschlüssel für seine Werke, aber auch für die psychologischen Experimente seines Lebens, deren Spuren er sorgfältig verwischt hat. Der Autor setzt das Spiel mit seinem „impliziten Leser“ fort: er hat nämlich jene Briefe und Dokumente, die das Geschehene hätten beweisen können, verbrannt. Gleichzeitig fügt er dennoch in seinen Erzähltext einen Interpretationsschlüssel ein, der dem Modell-Leser helfen kann, eine Lesestrategie nachzuvollziehen. Was der Autor uns durch diesen Umweg mitteilen will, ist nämlich etwas Unheimliches, das von einem Schuldgefühl begleitet wird. Goethe teilt uns mit, dass er die Familie Brion für sein Experiment „ausgenutzt“ hat und dass seine Einstellung ja unkorrekt, aber irgendwie notwendig war, um Affekte und Leidenschaften literarisch darstellen zu können. Und all diese indirekten Hinweise auf die Tatsache, dass einige Werther-Briefe die Stimmung – und manchmal sogar die Worte – der „Sesenheimer Idylle“ reproduzieren, haben das Ziel, dem „Modell-Leser“ einen Schlüssel zu liefern, damit dieser versteht, dass auch Charlotte Buff und Kestner programmatisch zu literarischem Stoff umfunktioniert worden sind.
2008
letteratura tedesca; genesi motivi poetici; risemantizzazione del passato e attualizzazione motivi e stilemi della tradizione
01 Pubblicazione su rivista::01a Articolo in rivista
Der lügende Gast. Selbstinszenierung und literarische Vorbilder in Geothes Darstellung der „Sesenheimer Idylle“ / Ponzi, Mauro. - In: STUDI GERMANICI. - ISSN 0039-2952. - STAMPA. - XLVI , 2:(2008), pp. 191-229.
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