Goethe hat immer die Interpretation abgelehnt, seinen Werther nur als Darstellung einer unglücklichen Liebe zu deuten. Goethe selbst hat alles möglich gemacht, um seinem eigenen Werk eine legendäre Aura zu verleihen. Der Doppelbegriff Leidenschaft-Melancholie wurde von Goethe selbst eingeführt als er im Werther schrieb: „Brauche ich dir das zu sagen, der Du so oft die Last getragen hast, mich von Kummer zur Ausschweifung, und von süßer Melancholie zur verderblichen Leidenschaft übergehen zu sehn“. Goethe deutet hier die erotische Leidenschaft mit einer pietistischen Sprache an, er will aber deutlich machen, daß es unmöglich ist, sexuelle Triebe durch eine sentimentale und „empfindsame“ Sprache zu beherrschen und zu steuern. Goethe kritisiert somit den Liebesdiskurs innerhalb der pietistischen Symbolik, die auf einem Mißverständnis beruht. Im Mittelpunkt seines literarischen Experiments steht die Leidenschaft (und in diesem Sinn entfernt er sich nicht von dem Kanon der Empfindsamkeit); sie wird aber in Bezug auf die Melancholie gesetzt, die mit all ihrem „Leiden“ und „Schmerz“ dennoch „süß“ ist. Der große Skandal besteht darin, daß Goethe die pietistische Sprache von innen entleert hat. literarischen Aspekt seiner Wende: der leibliche Charakter der erotischen Leidenschaft öffnet ihm neue Ausdrucksmöglichkeiten, die das sprachliche Schema der self-control brechen. Im Mittelpunkt des Romans steht die „Krankheit“ der Hauptperson, die nur in der Lage ist, Wahnphantasien zu produzieren, die eigene Leidenschaft erregen, und die fast keine Beziehung mehr weder zur Wirklichkeit noch zur geliebten Frau haben. Die Melancholie – wie das Wort selbst sagt – sei demzufolge eine Krankheit, die von der Vorherrschaft der schwarzen Galle verursacht sei. Schon nach antiken Vorstellungen wurde die Melancholie also hauptsächlich von psychischen Veränderungen (Angst, Misanthropie, Depression, Wahn) charakterisiert. Die Schwelle der Alteration, der „Krankheit“, war schwer zu definieren, da jedes Individuum zumindest vorübergehend ein Übergewicht der „schwarzen Galle“ haben und so von Melancholie betroffen sein konnte. Aristoteles (oder der Pseudo-Aristoteles) ersetzt in dem Problem XXX, 1 den mythischen Begriff der „Raserei“, des „Wahns“, wonach der Poet am Göttlichen teilnehme, durch die wissenschaftliche Begriffsbestimmung der „Melancholie“. Auch die moderne Psychoanalyse bezeichnet den psychotischen Charakter als den jenes Individuums, bei dem sich euphorische mit depressiven Zuständen abwechseln, das die Wahrnehmung der Außenwelt mit Wahnideen (bzw. Wenn Goethe also von Melancholie und Depression befallen war, so kann die fiktive Figur Werthers ohne Probleme als ein Psychotiker definiert werden, ebenso wie die reale Figur Jerusalems. Die Depression verbindet sich historisch mit dem Konzept der Melancholie. Tatsächlich beschreibt Goethe im gesamten Roman die Phänomenologie eines psychotischen Charakters. Die Melancholie wird nach Lavater von einem „gewissen Grad von Reizbarkeit“ von einer „Mischungsformel“, von „einem besonderen Rezept“ verursacht, welche die Natur (oder der liebe Gott) dem Individuum (in diesem Fall Werther) als „Gabe“ geschenkt habe. Die Krankheit ist demzufolge eine physische, chemische Modifikation des Körpers, die physisch heilbar ist. Die „Krankheit“, von der häufig im Werther gesprochen wird, ist die melancholische Pathologie der pietistischen Seele. Die erotische Leidenschaft wird auf ihre körperliche Essenz im Sinne der Säftelehre zurückgeführt. Insofern wird sie im engeren Sinn als eine körperliche und deshalb unkontrollierbare Krankheit gesehen: eine „chemische“ Modifikation des innerlichen Zustandes des Menschen. Melancholie und Leidenschaft sind also die Hauptthemen des Romans, welche von ihrer gemeinsamen pathologischen Natur zusammengehalten werden, insofern als sie zwei Aspekte desselben Phänomens darstellen. Leidenschaft und Melancholie sind die Pole, deren Ellipse das Thema des Romans ist.

Die Natur der Krankheit. Leidenschaft und Melancholie beim jungen Goethe / Ponzi, Mauro. - In: JAHRBUCH DES FREIEN DEUTSCHEN HOCHSTIFTS. - ISSN 0071-9463. - STAMPA. - NF 45:(2007), pp. 89-122.

Die Natur der Krankheit. Leidenschaft und Melancholie beim jungen Goethe

PONZI, Mauro
2007

Abstract

Goethe hat immer die Interpretation abgelehnt, seinen Werther nur als Darstellung einer unglücklichen Liebe zu deuten. Goethe selbst hat alles möglich gemacht, um seinem eigenen Werk eine legendäre Aura zu verleihen. Der Doppelbegriff Leidenschaft-Melancholie wurde von Goethe selbst eingeführt als er im Werther schrieb: „Brauche ich dir das zu sagen, der Du so oft die Last getragen hast, mich von Kummer zur Ausschweifung, und von süßer Melancholie zur verderblichen Leidenschaft übergehen zu sehn“. Goethe deutet hier die erotische Leidenschaft mit einer pietistischen Sprache an, er will aber deutlich machen, daß es unmöglich ist, sexuelle Triebe durch eine sentimentale und „empfindsame“ Sprache zu beherrschen und zu steuern. Goethe kritisiert somit den Liebesdiskurs innerhalb der pietistischen Symbolik, die auf einem Mißverständnis beruht. Im Mittelpunkt seines literarischen Experiments steht die Leidenschaft (und in diesem Sinn entfernt er sich nicht von dem Kanon der Empfindsamkeit); sie wird aber in Bezug auf die Melancholie gesetzt, die mit all ihrem „Leiden“ und „Schmerz“ dennoch „süß“ ist. Der große Skandal besteht darin, daß Goethe die pietistische Sprache von innen entleert hat. literarischen Aspekt seiner Wende: der leibliche Charakter der erotischen Leidenschaft öffnet ihm neue Ausdrucksmöglichkeiten, die das sprachliche Schema der self-control brechen. Im Mittelpunkt des Romans steht die „Krankheit“ der Hauptperson, die nur in der Lage ist, Wahnphantasien zu produzieren, die eigene Leidenschaft erregen, und die fast keine Beziehung mehr weder zur Wirklichkeit noch zur geliebten Frau haben. Die Melancholie – wie das Wort selbst sagt – sei demzufolge eine Krankheit, die von der Vorherrschaft der schwarzen Galle verursacht sei. Schon nach antiken Vorstellungen wurde die Melancholie also hauptsächlich von psychischen Veränderungen (Angst, Misanthropie, Depression, Wahn) charakterisiert. Die Schwelle der Alteration, der „Krankheit“, war schwer zu definieren, da jedes Individuum zumindest vorübergehend ein Übergewicht der „schwarzen Galle“ haben und so von Melancholie betroffen sein konnte. Aristoteles (oder der Pseudo-Aristoteles) ersetzt in dem Problem XXX, 1 den mythischen Begriff der „Raserei“, des „Wahns“, wonach der Poet am Göttlichen teilnehme, durch die wissenschaftliche Begriffsbestimmung der „Melancholie“. Auch die moderne Psychoanalyse bezeichnet den psychotischen Charakter als den jenes Individuums, bei dem sich euphorische mit depressiven Zuständen abwechseln, das die Wahrnehmung der Außenwelt mit Wahnideen (bzw. Wenn Goethe also von Melancholie und Depression befallen war, so kann die fiktive Figur Werthers ohne Probleme als ein Psychotiker definiert werden, ebenso wie die reale Figur Jerusalems. Die Depression verbindet sich historisch mit dem Konzept der Melancholie. Tatsächlich beschreibt Goethe im gesamten Roman die Phänomenologie eines psychotischen Charakters. Die Melancholie wird nach Lavater von einem „gewissen Grad von Reizbarkeit“ von einer „Mischungsformel“, von „einem besonderen Rezept“ verursacht, welche die Natur (oder der liebe Gott) dem Individuum (in diesem Fall Werther) als „Gabe“ geschenkt habe. Die Krankheit ist demzufolge eine physische, chemische Modifikation des Körpers, die physisch heilbar ist. Die „Krankheit“, von der häufig im Werther gesprochen wird, ist die melancholische Pathologie der pietistischen Seele. Die erotische Leidenschaft wird auf ihre körperliche Essenz im Sinne der Säftelehre zurückgeführt. Insofern wird sie im engeren Sinn als eine körperliche und deshalb unkontrollierbare Krankheit gesehen: eine „chemische“ Modifikation des innerlichen Zustandes des Menschen. Melancholie und Leidenschaft sind also die Hauptthemen des Romans, welche von ihrer gemeinsamen pathologischen Natur zusammengehalten werden, insofern als sie zwei Aspekte desselben Phänomens darstellen. Leidenschaft und Melancholie sind die Pole, deren Ellipse das Thema des Romans ist.
2007
Letteratura tedesca; Goethe Werther e la teoria degli umori; scienza e letteratura
01 Pubblicazione su rivista::01a Articolo in rivista
Die Natur der Krankheit. Leidenschaft und Melancholie beim jungen Goethe / Ponzi, Mauro. - In: JAHRBUCH DES FREIEN DEUTSCHEN HOCHSTIFTS. - ISSN 0071-9463. - STAMPA. - NF 45:(2007), pp. 89-122.
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