Hermann Hesses Werk geht eine exzentrische Bahn, die Überraschungen, Paradoxe, Wandlungen enthält, welche manchmal die Literaturwissenschaftler aber fast nie die Leser verwirren. Im Mittelpunkt seiner Reise nach Indien (1913) steht der Singapur-Traum, in dem Hesse die Figur seines Vaters sieht: „Ein Mann, der mir zur Seite lag, schien nicht zu schlafen. «Wir fahren nach Asien» wiederholte mein Vater, und plötzlich wußte ich alles wieder”. Seine Reise nach Indien war eigentlich eine Reise in die Vergangenheit, eine Suche nach den Orten, worüber er in seiner Kindheit viel Erzählen zugehört hatte, eine Suche nach der Welt, in der sein Vater gelebt hatte und in der seine Mutter geboren wurde. Im Mittelpunkt aller Romane Hermann Hesses steht die Bildung eines Individuums, fast alle stellen als Hauptperson einen Jüngling dar, der jene <Schattenschwelle> zwischen Adoleszenz und Reife überschreiten muß. Die literarische Kraft des Romans Siddhartha besteht in der Tatsache, daß diese «Suche nach sich selbst» mit einem Abschied von dem Vater explizit anfängt. Das Hauptthema der Romane von Hesse ist nämlich die Bildung; die erzählerische Kraft seines Werks – die gleichzeitig die Ursache seines Erfolgs bei den jungen Lesern ist – besteht darin, daß er in jeder Stelle seiner Erzählwerke behauptet, die Erfahrung unübermittelbar sei. Seine paradigmatischen Geschichte erzählen die Rebellion des Sohnes gegen den Vater. Hesse war in den 20er Jahren wörtlich ein <alternativer> Autor, da er sich von den idealen und literarischen Werten der deutschen Kunstproduktion, die das Eigene, und im Grunde die Überlegenheit der deutschen Kultur verherrlichte, radikal unterschied. In Siddhartha wird – deutlicher als anderswo – jene Bejahung jeder Erfahrung dargestellt, die ein wiederkehrendes Motiv der Hesseschen Romane ist. Man kann den Sinn des Romans aus einem Vergleich zwischen den Vater-Sohn-Dialogen, welche am Anfang und am Ende des selben Romans stehen. Siddhartha will von seinem Vater, dem Brahamanen, die Genehmigung haben, seinen eigenen Weg zur Wahrheit zu gehen. Der Vater meint, die Wahrheit zu besitzen, sie mit den Worten (mit einer Lehre) als absolute und offenbarte Wahrheit überliefern zu können. Der junge Siddhartha ist dagegen überzeugt, er soll nach der Wahrheit durch den eigenen Weg suchen. Der Gegensatz zwischen Vater und Sohn ist demzufolge unüberbrückbar. Siddharthas Entscheidung geht über den unmittelbaren Zweck seiner Reise (das asketischen Leben der Samana) hinaus. Die Reise, der Abschied von dem Vater, und der Verzicht auf das ruhige und sichere „bürgerliche“ Leben des Brahamanen, heißt, den Zweifeln eine Antwort geben zu wollen, nach einer Lösung zu suchen. Die Wahrheit, die <Antwort>, findet man erst am Ende «des langen Suchens», am Ende der Reise, am Ende des Lebenslaufes. Die Einheit des Seins garantiert nämlich die archetypischen Stufen jedes einzelnen Lebens. Nur die Einheit des Seins ermöglicht die Vielfältigkeit der Erfahrungen. Das Reiseziel zu erreichen heißt, eine Wendung der Hauptperson wahrzunehmen. Das Ziel eines langen Suchens ist eine Weisheit, eine neue und tiefere Weltanschauung zu erreichen. Seine Romane erzählen im Grunde Reiseerfahrungen als Lebenserfahrungen, welche die innere Wendung des Protagonisten bewirken und ihm den Zugang zur Wahrheit öffnen. Hesse verwendet also mit Erfolg die literarische Formel des Bildungsromans wieder, die seinem Werk einen pädagogischen Charakter verleiht. Gut und Böse, Leben und Tod, Bewußte und Unbewußte existieren im Inneren jedes Individuums. . Als Alternative unternimmt der junge Mann eine lange Reise in die weite Welt, die seine Rebellion in eine Bildungsreise verwandelt.

Der Jugendmythos bei Hermann Hesse / Ponzi, Mauro. - In: HERMANN-HESSE-JAHRBUCH. - ISSN 1614-1423. - STAMPA. - 3(2006), pp. 1-16.

Der Jugendmythos bei Hermann Hesse

PONZI, Mauro
2006

Abstract

Hermann Hesses Werk geht eine exzentrische Bahn, die Überraschungen, Paradoxe, Wandlungen enthält, welche manchmal die Literaturwissenschaftler aber fast nie die Leser verwirren. Im Mittelpunkt seiner Reise nach Indien (1913) steht der Singapur-Traum, in dem Hesse die Figur seines Vaters sieht: „Ein Mann, der mir zur Seite lag, schien nicht zu schlafen. «Wir fahren nach Asien» wiederholte mein Vater, und plötzlich wußte ich alles wieder”. Seine Reise nach Indien war eigentlich eine Reise in die Vergangenheit, eine Suche nach den Orten, worüber er in seiner Kindheit viel Erzählen zugehört hatte, eine Suche nach der Welt, in der sein Vater gelebt hatte und in der seine Mutter geboren wurde. Im Mittelpunkt aller Romane Hermann Hesses steht die Bildung eines Individuums, fast alle stellen als Hauptperson einen Jüngling dar, der jene zwischen Adoleszenz und Reife überschreiten muß. Die literarische Kraft des Romans Siddhartha besteht in der Tatsache, daß diese «Suche nach sich selbst» mit einem Abschied von dem Vater explizit anfängt. Das Hauptthema der Romane von Hesse ist nämlich die Bildung; die erzählerische Kraft seines Werks – die gleichzeitig die Ursache seines Erfolgs bei den jungen Lesern ist – besteht darin, daß er in jeder Stelle seiner Erzählwerke behauptet, die Erfahrung unübermittelbar sei. Seine paradigmatischen Geschichte erzählen die Rebellion des Sohnes gegen den Vater. Hesse war in den 20er Jahren wörtlich ein Autor, da er sich von den idealen und literarischen Werten der deutschen Kunstproduktion, die das Eigene, und im Grunde die Überlegenheit der deutschen Kultur verherrlichte, radikal unterschied. In Siddhartha wird – deutlicher als anderswo – jene Bejahung jeder Erfahrung dargestellt, die ein wiederkehrendes Motiv der Hesseschen Romane ist. Man kann den Sinn des Romans aus einem Vergleich zwischen den Vater-Sohn-Dialogen, welche am Anfang und am Ende des selben Romans stehen. Siddhartha will von seinem Vater, dem Brahamanen, die Genehmigung haben, seinen eigenen Weg zur Wahrheit zu gehen. Der Vater meint, die Wahrheit zu besitzen, sie mit den Worten (mit einer Lehre) als absolute und offenbarte Wahrheit überliefern zu können. Der junge Siddhartha ist dagegen überzeugt, er soll nach der Wahrheit durch den eigenen Weg suchen. Der Gegensatz zwischen Vater und Sohn ist demzufolge unüberbrückbar. Siddharthas Entscheidung geht über den unmittelbaren Zweck seiner Reise (das asketischen Leben der Samana) hinaus. Die Reise, der Abschied von dem Vater, und der Verzicht auf das ruhige und sichere „bürgerliche“ Leben des Brahamanen, heißt, den Zweifeln eine Antwort geben zu wollen, nach einer Lösung zu suchen. Die Wahrheit, die , findet man erst am Ende «des langen Suchens», am Ende der Reise, am Ende des Lebenslaufes. Die Einheit des Seins garantiert nämlich die archetypischen Stufen jedes einzelnen Lebens. Nur die Einheit des Seins ermöglicht die Vielfältigkeit der Erfahrungen. Das Reiseziel zu erreichen heißt, eine Wendung der Hauptperson wahrzunehmen. Das Ziel eines langen Suchens ist eine Weisheit, eine neue und tiefere Weltanschauung zu erreichen. Seine Romane erzählen im Grunde Reiseerfahrungen als Lebenserfahrungen, welche die innere Wendung des Protagonisten bewirken und ihm den Zugang zur Wahrheit öffnen. Hesse verwendet also mit Erfolg die literarische Formel des Bildungsromans wieder, die seinem Werk einen pädagogischen Charakter verleiht. Gut und Böse, Leben und Tod, Bewußte und Unbewußte existieren im Inneren jedes Individuums. . Als Alternative unternimmt der junge Mann eine lange Reise in die weite Welt, die seine Rebellion in eine Bildungsreise verwandelt.
2006
Lettaratura tedesca; mito della giovinezza; Siddhartha e il problema dellaeformazione
01 Pubblicazione su rivista::01a Articolo in rivista
Der Jugendmythos bei Hermann Hesse / Ponzi, Mauro. - In: HERMANN-HESSE-JAHRBUCH. - ISSN 1614-1423. - STAMPA. - 3(2006), pp. 1-16.
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