Nicht nur die heutige Modernisierung der neuen Bundesländer, sondern das Streben nach Fortschritt, Technik und Moderne überhaupt wird von Müller mit jenem "Sturm vom Paradiese", wovon Benjamin spricht, gleichgesetzt. Benjamin hat nämlich in seinen Vorbereitungsmaterialien zum Passagen-Werk den Vergleich zwischen Inferno und Moderne aufgestellt: «Das Moderne, die Zeit der Hölle». „Den Pessimismus organisieren“ könnte nämlich das Motto für das ganze Werk Heiner Müllers sein und darin besteht die unterschwellige Verbindung, die seine künstlerische Erfahrung zu der von Benjamin und Pasolini verknüpft. 1958 schrieb Müller einen kurzen Text, den er ausdrücklich als Benjamin-Rezeption gekennzeichnet hat: «DER GLÜCKLOSE ENGEL. Das Bild des glückslosen Engels als Allegorie seiner Hoffnungslosigkeit begleitet das ganze theatralische Werk Heiner Müllers. Er hat explizit sein Bild auf die benjaminsche Allegorie des Engels der Geschichte zurückgeführt. Müller erzählt, daß er etwa 1958 die Schriften Walter Benjamins las und daß er von der Allegorie des Engels der Geschichte tief beeindruckt wurde. In seinen Thesen über den Begriff der Geschichte schildert Benjamin nämlich ein Engelsbild, dessen Züge in Müllers Fragment wieder auftauchen.: Müllers Einstellung zur Modernität stimmt mit der von Benjamin vollkommen überein. Benjamins Interpretation der Erscheinungen seiner Epoche und besonders der Kategorie der Moderne bezieht sich auf Nietzsche. Die berühmte Allegorie des rückblickenden Engels war für seine Zeitgenossen fast unverständlich, weil Benjamins Auffassung der Geschichte eine besondere war, und zwar eine exzentrische. Geschichte schreiben heißt also Geschichte zitieren. Das Verfahren, worauf Müllers Werk basiert, ist eigentlich die Montage unterschiedlicher Materialien. Müller ist sich bewußt, das traditionelle Engelsbild umgestürzt zu haben, um es nach Benjamins Muster als Allegorie einer dauernden Katastrophe zu verwenden. Die eigentliche Analogie zwischen Benjamin und Müller besteht darin, daß jene auf der konkreten historischen Analyse gegründete Verzweiflung dennoch eine "schwache messianische Kraft" enthält, diese dauernde Katastrophe unterbrechen zu können. Das Engelsbild als Benjamin-Rezeption wirkt bei Müller als Sprengstoff, um seinen eigenen Stücken eine innere und vielleicht destruktive Kraft zu verleihen. Das gehört zu den infernalischen Aspekten der Moderne. Der glücklose Engel, der Engel der Verzweiflung ist zum gesichtlosen Engel geworden, und zwar zu einem einsamen, der unter den Trümmern der Geschichte nichts mehr zu verkündigen hat. Übrigens besteht Müllers Verfahren, seine Theaterstücke zu konstruieren, gerade in einer Bildermontage, welche einen Schock bewirkt. Pasolinis geistige und künstlerische Erfahrung ist nämlich insofern interessant, als sie jenes Unbehagen der Moderne darstellt, das eigentlich ein Leitmotiv auch bei Müller ist. Nur als Kritik der modernen Epoche und als Verwendung einer allegorischen Sprache, die auf Montage heterogener und entgegengesetzter Materialien basiert, kann die exzentrische Konstellation Benjamin-Pasolini-Müller - die der Stückeschreiber andeutet - einen literaturwissenschaftlichen Sinn bekommen. Die Ähnlichkeit zwischen Müller und beiden erwähnten Autoren ist damit beendet, weil sein Theater die Allegorien innerhalb des Mythos findet, um ihn als Kritik an der modernen Epoche zu umfunktionieren. Der Mythos ist bei Müller nur ein Bildraum - wie Benjamin sagen würde - und er wird als Sprache betrachtet und verwendet. Vergebens würde man in Müllers Dramen eine "Mythologie der Moderne" im irrationellen oder magischen Sinn heraussuchen. Mythos und Geschichte werden von Müller in keiner Gegenüberstellung betrachtet, sie werden bloß als Materialien verarbeitet, die man montieren, "zitieren" (wie Benjamin sagte) kann.

Heiner Müllers Engel der Geschichte / Ponzi, Mauro. - STAMPA. - 6(2010), pp. 255-279.

Heiner Müllers Engel der Geschichte

PONZI, Mauro
2010

Abstract

Nicht nur die heutige Modernisierung der neuen Bundesländer, sondern das Streben nach Fortschritt, Technik und Moderne überhaupt wird von Müller mit jenem "Sturm vom Paradiese", wovon Benjamin spricht, gleichgesetzt. Benjamin hat nämlich in seinen Vorbereitungsmaterialien zum Passagen-Werk den Vergleich zwischen Inferno und Moderne aufgestellt: «Das Moderne, die Zeit der Hölle». „Den Pessimismus organisieren“ könnte nämlich das Motto für das ganze Werk Heiner Müllers sein und darin besteht die unterschwellige Verbindung, die seine künstlerische Erfahrung zu der von Benjamin und Pasolini verknüpft. 1958 schrieb Müller einen kurzen Text, den er ausdrücklich als Benjamin-Rezeption gekennzeichnet hat: «DER GLÜCKLOSE ENGEL. Das Bild des glückslosen Engels als Allegorie seiner Hoffnungslosigkeit begleitet das ganze theatralische Werk Heiner Müllers. Er hat explizit sein Bild auf die benjaminsche Allegorie des Engels der Geschichte zurückgeführt. Müller erzählt, daß er etwa 1958 die Schriften Walter Benjamins las und daß er von der Allegorie des Engels der Geschichte tief beeindruckt wurde. In seinen Thesen über den Begriff der Geschichte schildert Benjamin nämlich ein Engelsbild, dessen Züge in Müllers Fragment wieder auftauchen.: Müllers Einstellung zur Modernität stimmt mit der von Benjamin vollkommen überein. Benjamins Interpretation der Erscheinungen seiner Epoche und besonders der Kategorie der Moderne bezieht sich auf Nietzsche. Die berühmte Allegorie des rückblickenden Engels war für seine Zeitgenossen fast unverständlich, weil Benjamins Auffassung der Geschichte eine besondere war, und zwar eine exzentrische. Geschichte schreiben heißt also Geschichte zitieren. Das Verfahren, worauf Müllers Werk basiert, ist eigentlich die Montage unterschiedlicher Materialien. Müller ist sich bewußt, das traditionelle Engelsbild umgestürzt zu haben, um es nach Benjamins Muster als Allegorie einer dauernden Katastrophe zu verwenden. Die eigentliche Analogie zwischen Benjamin und Müller besteht darin, daß jene auf der konkreten historischen Analyse gegründete Verzweiflung dennoch eine "schwache messianische Kraft" enthält, diese dauernde Katastrophe unterbrechen zu können. Das Engelsbild als Benjamin-Rezeption wirkt bei Müller als Sprengstoff, um seinen eigenen Stücken eine innere und vielleicht destruktive Kraft zu verleihen. Das gehört zu den infernalischen Aspekten der Moderne. Der glücklose Engel, der Engel der Verzweiflung ist zum gesichtlosen Engel geworden, und zwar zu einem einsamen, der unter den Trümmern der Geschichte nichts mehr zu verkündigen hat. Übrigens besteht Müllers Verfahren, seine Theaterstücke zu konstruieren, gerade in einer Bildermontage, welche einen Schock bewirkt. Pasolinis geistige und künstlerische Erfahrung ist nämlich insofern interessant, als sie jenes Unbehagen der Moderne darstellt, das eigentlich ein Leitmotiv auch bei Müller ist. Nur als Kritik der modernen Epoche und als Verwendung einer allegorischen Sprache, die auf Montage heterogener und entgegengesetzter Materialien basiert, kann die exzentrische Konstellation Benjamin-Pasolini-Müller - die der Stückeschreiber andeutet - einen literaturwissenschaftlichen Sinn bekommen. Die Ähnlichkeit zwischen Müller und beiden erwähnten Autoren ist damit beendet, weil sein Theater die Allegorien innerhalb des Mythos findet, um ihn als Kritik an der modernen Epoche zu umfunktionieren. Der Mythos ist bei Müller nur ein Bildraum - wie Benjamin sagen würde - und er wird als Sprache betrachtet und verwendet. Vergebens würde man in Müllers Dramen eine "Mythologie der Moderne" im irrationellen oder magischen Sinn heraussuchen. Mythos und Geschichte werden von Müller in keiner Gegenüberstellung betrachtet, sie werden bloß als Materialien verarbeitet, die man montieren, "zitieren" (wie Benjamin sagte) kann.
2010
DDR-Theater Theater in der DDR
9788895868011
Letteratura tedesca; teatro nella DDR; Heiner Müller
02 Pubblicazione su volume::02a Capitolo o Articolo
Heiner Müllers Engel der Geschichte / Ponzi, Mauro. - STAMPA. - 6(2010), pp. 255-279.
File allegati a questo prodotto
Non ci sono file associati a questo prodotto.

I documenti in IRIS sono protetti da copyright e tutti i diritti sono riservati, salvo diversa indicazione.

Utilizza questo identificativo per citare o creare un link a questo documento: https://hdl.handle.net/11573/424896
 Attenzione

Attenzione! I dati visualizzati non sono stati sottoposti a validazione da parte dell'ateneo

Citazioni
  • ???jsp.display-item.citation.pmc??? ND
  • Scopus ND
  • ???jsp.display-item.citation.isi??? ND
social impact