Benjamin begreift die „Geschichte der Moderne“ als eine Geschichte der Veränderung dieser Topographie der Erfahrungsräume. Das Bild bringt den Ort und die Empfindungen, die dieser Ort auslöst, zum Ausdruck. Paris wird von Benjamin als Hauptstadt des 19. Jahrhunderts bezeichnet, weil man hier die „Formen“ der Moderne besser und genauer als anderswo aufspüren kann: Hier nämlich ist möglich, die Topographie der Moderne zu rekonstruieren. Benjamin betont den fragmentarischen Charakter des modernen Denkens und er vergleicht den kritischen Diskurs mit einem Mosaik und deutet dadurch auf ein gedankliches Verfahren an, das auf die Montage unterschiedlicher Materialien gründet. In seiner Pariser Arbeit erhebt Benjamin den Anspruch, die verräterischen Versprechungen der Moderne radikal zu kritisieren. Benjamin setzt einen Querschnitt durch die Moderne, weil er meint, daß der Querschnitt die Grundzüge, die „Zeichen“ der ganzen Epoche enthält. Wenn die Urgeschichte der Moderne die Geschichte des Paris des zweiten Kaiserreiches ist, dann ist es auch wahr, daß das Bild dieser Stadt viele Züge der von Benjamin als Kind in Berlin gewonnen Stadterfahrung enthält. Die Erfahrung der Moderne kann durchaus als allegorische Produktion von Bildern synthetisiert werden, die durch ihre Zeitverdichtung einen epochalen Sprengstoff enthalten. Zu dem Bildraum der Moderne gehört auch das Traumkollektiv, d. h. jene Bilder, die von der Massengesellschaft hervorgebracht wurden. Die Bilder der Straße, die Bilder der Stadt sind letzten Endes die Formen des Traumkollektivs. Benjamins Analyse artikuliert sich dabei auf verschiedenen Ebenen. Die Flanerie wird auf die Konstellation Kindheit-Erinnerung zurückbezogen, insofern die Topographie der Moderne die Rekonstruktion der subjektiven Erfahrung von Fragmenten der Moderne ist und nichts anderes sein kann. Was nie geschrieben wurde, lesen, bedeutet für Benjamin eine Topographie des Bildraums aufzustellen. Die Wahrheit übernimmt dadurch „transzendentale“ („metaphysische“) Züge. Hier unterscheidet Benjamin den ontologischen Gegenstand der Erkenntnis von seinem Erkenntnisprozess. Benjamin kehrt aber diese metaphysische Perspektive plötzlich um: in dem einigen Moment, in welchem das Wort Symbol ist, erweist sich die Idee als ein Sprachliches, und stimmen Wort, Symbol, Idee und Wahrheit als Logos überein. Die Wahrheit (die Idee) verbirgt sich in der symbolischen Bedeutung, deren Wahrheit in ihrer Darstellung, in ihrer Repräsentation, in ihrer Inszenierung besteht. Benjamins Passagen-Werk hebt den Anspruch auf, eine Geschichte der Bilder der gesellschaftlichen und künstlerischen Kommunikation der Moderne und zugleich der Traumbilder zu sein. Nun spielt bei Benjamin diese Beziehung eine wechselseitige Rolle: Während die Kunst und die Werbung in ihrem Ausdruck Traumbilder in großer Menge verwenden, ist das Traumkollektiv von Formen und Bildern der Werbung und der modernen Kunst (Film usw.) bevölkert. Die Erfahrung der Moderne kann durchaus als allegorische Produktion von Bildern, die durch ihre Zeitverdichtung einen epochalen Sprengstoff enthalten, synthetisiert werden. Die neue Virtualität der Bilder hat eine neue Art von Schein hervorgebracht. In seiner Analyse von als Hauptstadt des 19. Jahrhunderts betont Benjamin wiederholend, daß die moderne Epoche ein komplexes und interaktives Zeichensystem verwendet. Die Umfunktionierung – wovon Brecht und Benjamin sprechen – zeigt eine starke epistemologische Ähnlichkeit mit der Inversion (Umkehr), wovon Warburg spricht.

Topographie des Bildraums / Ponzi, Mauro. - STAMPA. - 3(2008), pp. 109-122.

Topographie des Bildraums

PONZI, Mauro
2008

Abstract

Benjamin begreift die „Geschichte der Moderne“ als eine Geschichte der Veränderung dieser Topographie der Erfahrungsräume. Das Bild bringt den Ort und die Empfindungen, die dieser Ort auslöst, zum Ausdruck. Paris wird von Benjamin als Hauptstadt des 19. Jahrhunderts bezeichnet, weil man hier die „Formen“ der Moderne besser und genauer als anderswo aufspüren kann: Hier nämlich ist möglich, die Topographie der Moderne zu rekonstruieren. Benjamin betont den fragmentarischen Charakter des modernen Denkens und er vergleicht den kritischen Diskurs mit einem Mosaik und deutet dadurch auf ein gedankliches Verfahren an, das auf die Montage unterschiedlicher Materialien gründet. In seiner Pariser Arbeit erhebt Benjamin den Anspruch, die verräterischen Versprechungen der Moderne radikal zu kritisieren. Benjamin setzt einen Querschnitt durch die Moderne, weil er meint, daß der Querschnitt die Grundzüge, die „Zeichen“ der ganzen Epoche enthält. Wenn die Urgeschichte der Moderne die Geschichte des Paris des zweiten Kaiserreiches ist, dann ist es auch wahr, daß das Bild dieser Stadt viele Züge der von Benjamin als Kind in Berlin gewonnen Stadterfahrung enthält. Die Erfahrung der Moderne kann durchaus als allegorische Produktion von Bildern synthetisiert werden, die durch ihre Zeitverdichtung einen epochalen Sprengstoff enthalten. Zu dem Bildraum der Moderne gehört auch das Traumkollektiv, d. h. jene Bilder, die von der Massengesellschaft hervorgebracht wurden. Die Bilder der Straße, die Bilder der Stadt sind letzten Endes die Formen des Traumkollektivs. Benjamins Analyse artikuliert sich dabei auf verschiedenen Ebenen. Die Flanerie wird auf die Konstellation Kindheit-Erinnerung zurückbezogen, insofern die Topographie der Moderne die Rekonstruktion der subjektiven Erfahrung von Fragmenten der Moderne ist und nichts anderes sein kann. Was nie geschrieben wurde, lesen, bedeutet für Benjamin eine Topographie des Bildraums aufzustellen. Die Wahrheit übernimmt dadurch „transzendentale“ („metaphysische“) Züge. Hier unterscheidet Benjamin den ontologischen Gegenstand der Erkenntnis von seinem Erkenntnisprozess. Benjamin kehrt aber diese metaphysische Perspektive plötzlich um: in dem einigen Moment, in welchem das Wort Symbol ist, erweist sich die Idee als ein Sprachliches, und stimmen Wort, Symbol, Idee und Wahrheit als Logos überein. Die Wahrheit (die Idee) verbirgt sich in der symbolischen Bedeutung, deren Wahrheit in ihrer Darstellung, in ihrer Repräsentation, in ihrer Inszenierung besteht. Benjamins Passagen-Werk hebt den Anspruch auf, eine Geschichte der Bilder der gesellschaftlichen und künstlerischen Kommunikation der Moderne und zugleich der Traumbilder zu sein. Nun spielt bei Benjamin diese Beziehung eine wechselseitige Rolle: Während die Kunst und die Werbung in ihrem Ausdruck Traumbilder in großer Menge verwenden, ist das Traumkollektiv von Formen und Bildern der Werbung und der modernen Kunst (Film usw.) bevölkert. Die Erfahrung der Moderne kann durchaus als allegorische Produktion von Bildern, die durch ihre Zeitverdichtung einen epochalen Sprengstoff enthalten, synthetisiert werden. Die neue Virtualität der Bilder hat eine neue Art von Schein hervorgebracht. In seiner Analyse von als Hauptstadt des 19. Jahrhunderts betont Benjamin wiederholend, daß die moderne Epoche ein komplexes und interaktives Zeichensystem verwendet. Die Umfunktionierung – wovon Brecht und Benjamin sprechen – zeigt eine starke epistemologische Ähnlichkeit mit der Inversion (Umkehr), wovon Warburg spricht.
2008
Topographie der Erinnerung
9783826032226
Letteratura tedesca; esperienza di città; Walter Benjamin e Parigi
02 Pubblicazione su volume::02a Capitolo o Articolo
Topographie des Bildraums / Ponzi, Mauro. - STAMPA. - 3(2008), pp. 109-122.
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Utilizza questo identificativo per citare o creare un link a questo documento: https://hdl.handle.net/11573/423797
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