Hermann Hesses Auseinandersetzung mit der östlichen Kultur- und Philosophie fand auf verschiedenen Ebene statt. Hinter den fern-östlichen Motiven seiner Prosa stehen eine pietistische Auffassung der Religion, die Hermann Hesse von seinem Großvater Dr. Hermann Gundert ererbt hat, und eine sonderbare Mischung von Motiven der westlichen Kultur (wie Untergang des Abendlandes, Psychoanalyse, Mythos der ewigen Jugend usw.). Hesse hat 1911 zusammen mit seinem Freund und Maler Hans Sturzenhegger eine Reise nach Indien unternommen. Sie war aber eine besondere Reise. In der Wahrnehmung dieser „Kontamination“ glaubt Hesse eine „schwere Identitätskrise“ zu erkennen. Die Begriffsbestimmung >Naturvölker< ist gewiss eine Idealisierung und Stilisierung, die aus der deutschen Romantik herkommt, die aber von Hesse mit dem Indien-Bild seiner Eltern und besonders seines Großvaters verflochten wurde. Die Reise nach Indien der vielen europäischen Reisenden bestätigt das Asienbild der westlichen Intellektuellen. Auch Hermann Hesses Orientbild ist eine Bestätigung dessen, was sein Großvater, sein Vater uns seine Mutter schon beschrieben hatten. Man könnte behaupten, dass Hesse die indische Kultur mit Muttermilch gesaugt hat. Im Mittelpunkt seiner Kindheit steht die Figur des Großvaters mütterlicher Seite, Hermann Gundert. Gundert fasste eine Malajam Grammatik, ein malajam-englisches Wörterbuch, eine Sammlung von Malajam-Liedern. Seine Tochter Marie wurde in Indien in der Mission in Malabar geboren. Hesses Eltern wohnten jahrelange in Indien, sowohl sein Vater als auch sein Großvater waren Pfarrer, Missionare, Orientalisten. Hesse beobachtete immer wieder das Fernost aus der Sicht eines Missionars wenn auch in der milderen und toleranten Variante seines Großvaters und seiner Eltern. Hermann Hesses Kindheit – die „Kindheit des Zauberers“ – war also von >indischen< Suggestionen gekennzeichnet. Besonders die Figur seiner Mutter, die in Indien geboren wurde und dort viele Jahre ihres Lebens verbrachte, die mit ihrem Mann Wörter aus exotischen Sprachen wechselte und süße Schlaflieder auf Malajam sang, verleiht dem Orient bei Hesse einen Hauch der Suche nach der verlorenen Zeit, eines mit den zugehörigen Träumereien Kindheit- Topos, der sich vielmehr als „Landschaft der Seele“ als ein konkreter geographischer Ort erweist. 1904 in Gaienhofen las Hesse Schopenhauer und fand er sich wieder auf die indische Philosophie erwiesen. Im Jahr 1921 rezensierte Hesse eine Anthologie von Alfred Hillebrandt mit dem Titel Aus Brahamas und Upanishaden. Man kann mit Adrian Hsia behaupten, dass Hesse eher aus dem Taoismus als aus dem Hinduismus schöpft. Zweifellos können wir viele Motive aus diesen indischen und chinesischen Texten in Hesses Werk spüren, sie werden aber immer wieder mit Leitmotiven aus dem Pietismus und aus der Philosophie von Nietzsche kombiniert und verflochten. Hesse findet eine Bestätigung der fernöstlichen Religionen und Philosophien im Denken Nietzsches und Schopenhauers, bei dem die nihilistische Komponente zu keine Versöhnung führt. Die Einheit der Gegensätze und die Einseitigkeit der Lehren sind nur Variationen über das Thema der Vielfältigkeit der möglichen Erfahrungen, über das Thema der ähnlichen Gültigkeit jedes individuellen Wegs. Das Orientmotiv in Hesses Werke hat auch die Funktion, eine transkulturelle Gesellschaft vorwegzunehmen, die vielleicht idealisiert wird, die aber als Modell des zukünftigen und vergangenen Zusammenlebens dargestellt wird. Die Ähnlichkeit der Religionen und Weltanschauungen wird durch die Verwendung des Motivs der „Vielzahl der Bejahungen“ geäußert. Dadurch unterscheidet sich Hermann Hesse von der deutschen Intelligenz seiner Zeit. Und eben diese „Unzeitgemäßigkeit“ ermöglicht ihm, heute mehr denn je „aktuell“ zu sein. In der heutigen transkulturellen Gesellschaft der globalisierten Welt gelten die „Vielzahl der Bejahungen“ und der Respekt vor allen Religionen und Weltanschauungen als Gegengift zu dem „crash of civilisations“. Hesses Orientmotiv, eben weil es auf romantischen und pietistischen Elementen gegründet ist, gilt als eine kulturelle und philosophische „Brücke“ zu den fernöstlichen Religionen und Weltanschauungen.

Hermann Hesses Orientbild. Ein Kindheitstraum / Ponzi, Mauro. - STAMPA. - (2011), pp. 93-110.

Hermann Hesses Orientbild. Ein Kindheitstraum

PONZI, Mauro
2011

Abstract

Hermann Hesses Auseinandersetzung mit der östlichen Kultur- und Philosophie fand auf verschiedenen Ebene statt. Hinter den fern-östlichen Motiven seiner Prosa stehen eine pietistische Auffassung der Religion, die Hermann Hesse von seinem Großvater Dr. Hermann Gundert ererbt hat, und eine sonderbare Mischung von Motiven der westlichen Kultur (wie Untergang des Abendlandes, Psychoanalyse, Mythos der ewigen Jugend usw.). Hesse hat 1911 zusammen mit seinem Freund und Maler Hans Sturzenhegger eine Reise nach Indien unternommen. Sie war aber eine besondere Reise. In der Wahrnehmung dieser „Kontamination“ glaubt Hesse eine „schwere Identitätskrise“ zu erkennen. Die Begriffsbestimmung >Naturvölker< ist gewiss eine Idealisierung und Stilisierung, die aus der deutschen Romantik herkommt, die aber von Hesse mit dem Indien-Bild seiner Eltern und besonders seines Großvaters verflochten wurde. Die Reise nach Indien der vielen europäischen Reisenden bestätigt das Asienbild der westlichen Intellektuellen. Auch Hermann Hesses Orientbild ist eine Bestätigung dessen, was sein Großvater, sein Vater uns seine Mutter schon beschrieben hatten. Man könnte behaupten, dass Hesse die indische Kultur mit Muttermilch gesaugt hat. Im Mittelpunkt seiner Kindheit steht die Figur des Großvaters mütterlicher Seite, Hermann Gundert. Gundert fasste eine Malajam Grammatik, ein malajam-englisches Wörterbuch, eine Sammlung von Malajam-Liedern. Seine Tochter Marie wurde in Indien in der Mission in Malabar geboren. Hesses Eltern wohnten jahrelange in Indien, sowohl sein Vater als auch sein Großvater waren Pfarrer, Missionare, Orientalisten. Hesse beobachtete immer wieder das Fernost aus der Sicht eines Missionars wenn auch in der milderen und toleranten Variante seines Großvaters und seiner Eltern. Hermann Hesses Kindheit – die „Kindheit des Zauberers“ – war also von >indischen< Suggestionen gekennzeichnet. Besonders die Figur seiner Mutter, die in Indien geboren wurde und dort viele Jahre ihres Lebens verbrachte, die mit ihrem Mann Wörter aus exotischen Sprachen wechselte und süße Schlaflieder auf Malajam sang, verleiht dem Orient bei Hesse einen Hauch der Suche nach der verlorenen Zeit, eines mit den zugehörigen Träumereien Kindheit- Topos, der sich vielmehr als „Landschaft der Seele“ als ein konkreter geographischer Ort erweist. 1904 in Gaienhofen las Hesse Schopenhauer und fand er sich wieder auf die indische Philosophie erwiesen. Im Jahr 1921 rezensierte Hesse eine Anthologie von Alfred Hillebrandt mit dem Titel Aus Brahamas und Upanishaden. Man kann mit Adrian Hsia behaupten, dass Hesse eher aus dem Taoismus als aus dem Hinduismus schöpft. Zweifellos können wir viele Motive aus diesen indischen und chinesischen Texten in Hesses Werk spüren, sie werden aber immer wieder mit Leitmotiven aus dem Pietismus und aus der Philosophie von Nietzsche kombiniert und verflochten. Hesse findet eine Bestätigung der fernöstlichen Religionen und Philosophien im Denken Nietzsches und Schopenhauers, bei dem die nihilistische Komponente zu keine Versöhnung führt. Die Einheit der Gegensätze und die Einseitigkeit der Lehren sind nur Variationen über das Thema der Vielfältigkeit der möglichen Erfahrungen, über das Thema der ähnlichen Gültigkeit jedes individuellen Wegs. Das Orientmotiv in Hesses Werke hat auch die Funktion, eine transkulturelle Gesellschaft vorwegzunehmen, die vielleicht idealisiert wird, die aber als Modell des zukünftigen und vergangenen Zusammenlebens dargestellt wird. Die Ähnlichkeit der Religionen und Weltanschauungen wird durch die Verwendung des Motivs der „Vielzahl der Bejahungen“ geäußert. Dadurch unterscheidet sich Hermann Hesse von der deutschen Intelligenz seiner Zeit. Und eben diese „Unzeitgemäßigkeit“ ermöglicht ihm, heute mehr denn je „aktuell“ zu sein. In der heutigen transkulturellen Gesellschaft der globalisierten Welt gelten die „Vielzahl der Bejahungen“ und der Respekt vor allen Religionen und Weltanschauungen als Gegengift zu dem „crash of civilisations“. Hesses Orientmotiv, eben weil es auf romantischen und pietistischen Elementen gegründet ist, gilt als eine kulturelle und philosophische „Brücke“ zu den fernöstlichen Religionen und Weltanschauungen.
2011
Licht aus dem Osten? Hermann Hesses Transkulturelle Orientbezüge
9783828827370
Letteratura tedesca; Hermann Hesse e l'Oriente; pietismo e comunicazione tra culture diverse
02 Pubblicazione su volume::02a Capitolo o Articolo
Hermann Hesses Orientbild. Ein Kindheitstraum / Ponzi, Mauro. - STAMPA. - (2011), pp. 93-110.
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Utilizza questo identificativo per citare o creare un link a questo documento: https://hdl.handle.net/11573/424921
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