Benjamins Identifikation mit Kafka beruht auf der Zentralität der Sprache in der literarischen Produktion und auf der Bindung zur deutschsprachigen Literatur. Auch Benjamins Werk geht einen elliptischen Weg, nur sind die Brennpunkte seiner Ellipse vielfältiger, polyedrischer. Das Bild des vorübergehenden Engels ist gleichzeitig das Gleichnis, durch das Benjamin den vergänglichen Charakter seines Werks allegorisch ausdrückt. Sowohl Kafka als auch Benjamin rezipieren aus der jüdischen mystischen Tradition die Überzeugung, daß die Erlösung von einem „Scheitern“ vorweggenommen wird, das eben in seiner Negativität einen messianischen Wert übernimmt. Der Marxismus ist für Benjamin der einzige Interpretationsschlüssel, um die großen sozial-wirtschaftlichen Veränderungen des 19. Jahrhunderts verstehen zu können. Geschichte schreiben heißt also Geschichte zitieren. Der historische Materialist weiß darum» – so endet die 2. These über den Begriff der Geschichte. Mehrmals hat die Benjamin-Forschung jenen berühmten Satz von Scholem wiederholt, nach der Benjamins Denken ein theologisches Denken ist, in dessen Mitte der Begriff Gottes entnommen worden ist. Benjamin nimmt im Grunde von dem historischen Materialismus gerade jenen in der marxschen Philosophie innewohnenden (wenn auch schwachen) messianischen Aspekt an. Benjamins Utopie entzieht sich den alten marxistischen Begriffsbestimmungen und kann keineswegs mit dem Kommunismus identifiziert werden. In einer Vorbereitungsschrift zur 17. These schreibt Benjamin: «Marx hat in der Vorstellung der klassenlosen Gesellschaft die Vorstellung der messianischen Zeit säkularisiert». Benjamins anspruchsvolles Projekt bestand darin, den destruktiven Charakter der modernen Epoche ans Licht zu bringen. In den Thesen über den Begriff der Geschichte wird der historische Materialismus zur Erwartung einer messianischen Zeit, die in sich nichts historisches mehr hat. Benjamin wollte demzufolge der nächsten Generation die Liquidation des ganzen Kulturgutes der modernen Epoche als Erbe hinterlassen: den Glaube an den Fortschritt und den historischen Materialismus inbegriffen. Die geschichtlichen Ereignisse der letzten Jahren könnten irgend jemand veranlassen, Benjamins Gedanken jenen prophetischen Charakter der jüdischen Mystik zu zuschreiben. Der „prophetische Wert“ ist aber dem Benjamins Denken fremd. Benjamin ist ebenso gegen die „Visionen“ der Surrealisten, die an der Schwelle der „Unerklärbarkeit“ einiger Formen der Moderne stehenbleiben. Benjamins Blick scheint in die Vergangenheit zu starren, sein Versuch ist aber auf eine messianisch-revolutionäre Zukunft zugerichtet. Die paradoxe Anweisung der Theologie von Benjamin heißt, eine schwache messianische Erwartung zu haben ohne sich um die Theologie zu kümmern. Benjamins Theologie zufolge, ist für uns die „spannungslose“ Sprache des Logos unzugänglich; wir können sie nur darstellen. Benjamin nimmt die jüdische und theologische Wurzel seines Denkens wahr – was übrigens Scholem später mehrmals betonte. Benjamins Denken ist von Theologie, von jüdischer Mystik, von Kabbala vollgesogen; und ohne diese Elemente wäre es unverständlich. Benjamin hatte durch Scholem die Hauptströmungen der jüdischen mystischen Tradition kennen gelernt. Wie Scholem bemerkt, wurde der Offenbarung von Benjamin das Objekt entzogen. Der Anspruch des späten Benjamins, des „historischen Materialisten“, Theorie und Praxis zu verbinden, stößt mit der Unmöglichkeit zusammen, vor [anhand] jener Ausweglosigkeit zu handeln, welche die Moderne gekennzeichnet hatte. Der historische Materialismus hält den Sturm der Geschichte nicht aus und mündet in eine messianische Erwartung der Apokalypse ohne Rettung. Benjamin hatte den Anspruch, in seinen Werken seine Epoche allegorisch darzustellen. Die Kraft des Denkens von Walter Benjamin besteht ganz und gar in seiner Radikalität.

Eine Ellipse mit mehreren Brennpunkten. Die „schwache“ messianische Erwartung bei Walter Benjamin / Ponzi, Mauro. - STAMPA. - (2009), pp. 231-246.

Eine Ellipse mit mehreren Brennpunkten. Die „schwache“ messianische Erwartung bei Walter Benjamin

PONZI, Mauro
2009

Abstract

Benjamins Identifikation mit Kafka beruht auf der Zentralität der Sprache in der literarischen Produktion und auf der Bindung zur deutschsprachigen Literatur. Auch Benjamins Werk geht einen elliptischen Weg, nur sind die Brennpunkte seiner Ellipse vielfältiger, polyedrischer. Das Bild des vorübergehenden Engels ist gleichzeitig das Gleichnis, durch das Benjamin den vergänglichen Charakter seines Werks allegorisch ausdrückt. Sowohl Kafka als auch Benjamin rezipieren aus der jüdischen mystischen Tradition die Überzeugung, daß die Erlösung von einem „Scheitern“ vorweggenommen wird, das eben in seiner Negativität einen messianischen Wert übernimmt. Der Marxismus ist für Benjamin der einzige Interpretationsschlüssel, um die großen sozial-wirtschaftlichen Veränderungen des 19. Jahrhunderts verstehen zu können. Geschichte schreiben heißt also Geschichte zitieren. Der historische Materialist weiß darum» – so endet die 2. These über den Begriff der Geschichte. Mehrmals hat die Benjamin-Forschung jenen berühmten Satz von Scholem wiederholt, nach der Benjamins Denken ein theologisches Denken ist, in dessen Mitte der Begriff Gottes entnommen worden ist. Benjamin nimmt im Grunde von dem historischen Materialismus gerade jenen in der marxschen Philosophie innewohnenden (wenn auch schwachen) messianischen Aspekt an. Benjamins Utopie entzieht sich den alten marxistischen Begriffsbestimmungen und kann keineswegs mit dem Kommunismus identifiziert werden. In einer Vorbereitungsschrift zur 17. These schreibt Benjamin: «Marx hat in der Vorstellung der klassenlosen Gesellschaft die Vorstellung der messianischen Zeit säkularisiert». Benjamins anspruchsvolles Projekt bestand darin, den destruktiven Charakter der modernen Epoche ans Licht zu bringen. In den Thesen über den Begriff der Geschichte wird der historische Materialismus zur Erwartung einer messianischen Zeit, die in sich nichts historisches mehr hat. Benjamin wollte demzufolge der nächsten Generation die Liquidation des ganzen Kulturgutes der modernen Epoche als Erbe hinterlassen: den Glaube an den Fortschritt und den historischen Materialismus inbegriffen. Die geschichtlichen Ereignisse der letzten Jahren könnten irgend jemand veranlassen, Benjamins Gedanken jenen prophetischen Charakter der jüdischen Mystik zu zuschreiben. Der „prophetische Wert“ ist aber dem Benjamins Denken fremd. Benjamin ist ebenso gegen die „Visionen“ der Surrealisten, die an der Schwelle der „Unerklärbarkeit“ einiger Formen der Moderne stehenbleiben. Benjamins Blick scheint in die Vergangenheit zu starren, sein Versuch ist aber auf eine messianisch-revolutionäre Zukunft zugerichtet. Die paradoxe Anweisung der Theologie von Benjamin heißt, eine schwache messianische Erwartung zu haben ohne sich um die Theologie zu kümmern. Benjamins Theologie zufolge, ist für uns die „spannungslose“ Sprache des Logos unzugänglich; wir können sie nur darstellen. Benjamin nimmt die jüdische und theologische Wurzel seines Denkens wahr – was übrigens Scholem später mehrmals betonte. Benjamins Denken ist von Theologie, von jüdischer Mystik, von Kabbala vollgesogen; und ohne diese Elemente wäre es unverständlich. Benjamin hatte durch Scholem die Hauptströmungen der jüdischen mystischen Tradition kennen gelernt. Wie Scholem bemerkt, wurde der Offenbarung von Benjamin das Objekt entzogen. Der Anspruch des späten Benjamins, des „historischen Materialisten“, Theorie und Praxis zu verbinden, stößt mit der Unmöglichkeit zusammen, vor [anhand] jener Ausweglosigkeit zu handeln, welche die Moderne gekennzeichnet hatte. Der historische Materialismus hält den Sturm der Geschichte nicht aus und mündet in eine messianische Erwartung der Apokalypse ohne Rettung. Benjamin hatte den Anspruch, in seinen Werken seine Epoche allegorisch darzustellen. Die Kraft des Denkens von Walter Benjamin besteht ganz und gar in seiner Radikalität.
2009
Ästhetik, Religion, Säkularisierung II. Die Klassische Moderne
9783770549221
Letteratura tedesca; Secolarizzazione; Klassische Moderne
02 Pubblicazione su volume::02a Capitolo o Articolo
Eine Ellipse mit mehreren Brennpunkten. Die „schwache“ messianische Erwartung bei Walter Benjamin / Ponzi, Mauro. - STAMPA. - (2009), pp. 231-246.
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Utilizza questo identificativo per citare o creare un link a questo documento: https://hdl.handle.net/11573/170815
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